Bindung versus Autonomie
Den meisten Eltern ist gar nicht bewusst, was in den Konflikten ihres Alltags mitschwingt und was sie tatsächlich verursacht.
Vermutlich auch dir nicht. Weil du ja unter Umständen ganz anfassbare und konkrete Probleme mit deinem Kind hast, die du überhaupt nicht zurückführen würdest, auf den darunterlegenden Ursprungskonflikt, der in dir tobt.
Fast alle Probleme im Umgang mit deinem Kind lassen sich an einen bestimmten Ort zurückverfolgen:
Ins Dilemma entweder du selbst zu sein, dir zu genügen, Ansprüche auch mal draußen zu lassen und damit die unangenehme Ablehnung des Außen für nicht erfüllte Erwartungen in Kauf zu nehmen und sich ein bisschen falsch, ein bisschen wertlos, ungenügend und nicht mehr zugehörig zu fühlen.
Bindung versus Autonomie.
Es scheint, als müssten wir uns lebenslänglich mit zwei konträren, emotionalen Grundbedürfnissen herumärgern.
Aber weißt du was?
Das ist ein Irrtum.
Individualität und Zugehörigkeit schließen sich nicht aus.
Dein Kind kann durchaus es selbst sein und dennoch die Gesellschaft, der es angehört, bereichern.
Nur weil es aneckt, aus dem Rahmen fällt oder Ansprüche nicht bedient, muss es nicht aus der Gemeinschaft plumpsen.
Und ein Kind, das genau weiß, was es zu tun und zu lassen hat und das seinen Selbstwert im Ja des Gegenübers sucht, mag zwar für die Gesellschaft „richtig“ und dienlich sein, sich selbst aber wird es nicht mehr spüren und dieser Preis ist zu hoch.
Selten leben Menschen ein Leben, das ihnen ganz und gar entspricht, mit den Beziehungen, die ihnen ganz und gar entsprechen, auf eine Art und Weise, die ihnen ganz und gar entspricht.
Kompromisslos halt.
Gierig aufs Leben.
Sehr selten.
Du?
Das liegt daran, dass wir sehr früh lernen, entweder den anderen zu gefallen oder uns selbst und dass uns keiner beibringt, dass das eine das andere nicht ausschließt.
Menschen sind da oft sehr genügsam in ihren Ansprüchen ans Leben: unkompliziert, ohne größere Stürme und Katastrophen oder tägliche Streitereien reicht den meisten Menschen schon aus.
Schade drum, oder?
Denn um diesen großen und kleinen Schmerz im Alltag loszuwerden ist die Sehnsucht nach „mehr“ sehr hilfreich. Sie ist das Benzin auf dem Weg zu dir selbst.
Vielleicht hat aber dein Bedürfnis nach Selbstausdruck, Individualität, Autonomie und Lebendigkeit schon ganz oft ganz schön arg Federn gelassen.
Kein Wunder.
Sicherheit sticht Autonomie.
Wir mögen es gern zu überleben und dazu ist Sicherheit einfach geeigneter.
Es ist daher das Totschlagargument einer jeden Diskussion, wenn das böse Unwort der Individualität erst mal ausgesprochen wurde.
„Geht nicht!“ heißt es dann.
„Man muss sich auch mal unterordnen.“
„Es kann ja nicht jeder machen was er will.“
Ich möchte dann gern in die Tischkante beißen, weil die Argumentation so absurd limitiert ist.
Individualität heißt Unverwechselbarkeit, nicht Egozentrik und Selbstbezogenheit.
Das macht doch einen Unterschied, oder?
Wieso sollte Unverwechselbarkeit sich mit Gemeinschaft nicht vereinbaren lassen oder gar mit Regeln? Es gibt einfach keinen kausalen Zusammenhang.
Wer Teile von sich aufgibt, um Akzeptanz und Zugehörigkeit zu erfahren und das haben wir alle (!) in sehr frühen Jahren, weil wir alle Bedingungen an Bindung erfahren haben, verliert einen Teil des Zugangs zu sich selbst.
Dann spürst du dich weniger oder alles ist zu anstrengend, dann ist das Leben lau und okay, aber irgendetwas fehlt, dann fragst du dich vielleicht nicht mehr nach Sinnhaftigkeit oder du hast ein Kind, das dich auffordert, dich endlich mit diesem fehlenden Teil auseinanderzusetzen, weil er dir in der Auseinandersetzung mit deinem Kind fehlt oder das Fehlen dir im Weg steht. Dann eckt es an, sagt nein, schließt sich aus, während du still darunter leidest, von allen anderen gemocht zu werden und dafür die eigenen Grenzen der Belastbarkeit zu übergehen.
Wer keine Teile von sich aufgeben muss, sondern für seine Individualität geschätzt ist, erhält also den Zugang zu sich UND Akzeptanz seiner Gemeinschaft FÜR sein einzigartiges Wesen.
Und wer das nicht schätzen kann, hat eben aufgegeben, sich selbst zu schätzen – der Ball liegt dann also nicht bei dir.
Ist doch gar nicht so schwierig, dich fühlen zu wollen?
Ich bin sicher, dein (gefühlsstarkes ) Kind fordert dich genau dazu auf, nicht mehr nicht fühlen zu können ?
Wenn wir nicht mehr trainiert sind auf defizitäre Perspektiven, auf Mangel, Brauchen, Angst und Leistung, können wir Kindern vorleben, dass es im Leben schon lange nicht ums Überleben geht, sondern ums Leben in den buntesten Farben und dass es ein Anrecht auf ein Leben hat, das es sich selbst gestaltet und wie das geht.
Ein täglicher Eiertanz, zugegeben- aber einfach ist sowieso überbewertet
Wenn du nicht mehr glauben musst, dein Kind lediglich auf diese Welt vorbereiten zu müssen, sondern es zu begleiten, auf dem Weg in sein Wesen, das in dieser Welt zurechtkommt UND sich seine Welt gestaltet, wissend, dass Individualität und Zugehörigkeit sich nicht ausschließen, obwohl du vergessen oder nie erfahren hast, wie das geht, oder es dir niemand gezeigt hat, dann spürst DU dich noch genug.
Dann sehnst DU dich noch genug.
Dann hast DU dich noch genug.
Genug um noch mehr von dir zu wollen und den Platz in dir ganz und gar zu besetzen.
Du bist einmalig, unverwechselbar – einzigartig.
So wie dein Kind.
Niemals mehr in der Geschichte dieses Planeten hat es dich schon mal auf diese Weise gegeben oder wird es dich in dieser Zusammensetzung nochmals geben.
Du. bist. absolut. einzigartig.
Wenn du nicht du bist, ist es niemand.
Schön, dass du hier bist.
Break the cycle.