Dein Kind spürt deinen Schmerz
Letztens bat mich mein großer Sohn um ein Gespräch, weil er ein Problem hatte. Das allein grenzt schon an ein Wunder, denn er gehört eher zur Fraktion „solange ich Beton auf meine Probleme gießen kann, kann ich auch kein Problem erkennen“ oder „solange ich nicht auf dem Zahnfleisch laufe, benötige ich auch keine Hilfe. Ich melde mich, wenn es mich überrollt hat“.
Ganz schlüssige Autonomie-Strategien, wenn man mich zur Mutter hat und sich von den Strategien der Geschwister abgrenzen muss.
Wir saßen also bei bestem Wetter auf der Terrasse und sprachen, auf seinen Wunsch, (hab ich’s schon gesagt? ) über ein Problem und nicht wie sonst über die eingetretenen Folgen eines ungelösten Problems. Ich war massiv beeindruckt und übte mich in Zurückhaltung und darin, nur dann zu antworten, wenn ich auch gefragt wurde.
Wir nahmen sein Problem auseinander und das Problem hinter dem Problem war schnell identifiziert. Sogar das Gefühl, das zum Problem gehört, war für ihn greifbar (bitte verzweifle also nicht, wenn du eines dieser sehr sensiblen und höchst irritablen Kinder hast, die dir nur eingeschränkte Sprechzeiten für ihre emotionale Verfügbarkeit einrichten und die ihre Autonomie über alles stellen—wenn du tief genug in dir gräbst, wirst du genau das vermutlich auch in dir finden).
Und nicht nur das, wir fanden in seinem Leben sogar ähnliche Situationen, heute und gestern, die ähnliche Gefühle auslösten. Man könnte das ein Muster nennen und Kind 2 erkannte dieses Muster.
Wir sprachen also allgemein über dieses Muster und dann ganz kurz über den individuellen Ursprung dieses Musters (nicht zu lange ) und ich so: „Kannst du ein neues Muster draus machen. Schau‘s dir halt an.“
Er: „Ich kümmer mich drum, wenn`s ansteht“
Ich: „What?“
Er: „Wenn`s nicht mehr anders geht“
Ich, nachdem ich kurze schnell Sprachlosigkeit überwunden habe: „Okay. Das ist auch `ne Form der Klarheit.“
Ich fasse zusammen: ein Problem ist so lange nicht existent, bis es entweder über uns zusammenbricht und die Folgen unangenehm sind und nicht mehr zu vermeiden ist, dass es gelöst sein will. Bis also der Leidensdruck groß genug ist.
Und weißt du was?
Das ist gewöhnlich.
So tickt der Mensch. Er vermeidet gern alles, was die innere Balance aus dem Gleichgewicht bringt und versucht das Problem zuerst zu ignorieren, dann stärker zu ignorieren, zur Not auch zu leugnen, es zu externalisieren ODER es zu lösen. So ticken wir erst mal alle.
Ich möchte auch gern regelmäßig weglaufen, wenn mal wieder etwas ansteht. Weil es einfach Angenehmeres gibt. Keller aufräumen zum Beispiel. Oder Steuererklärung. Oder irgendwas mit Excel. Jedes einzelne Mal würden wir gerne vermeiden, wenn es möglich wäre.
Ist es aber nicht.
Weil der Preis, den du zahlst, wenn du es vermeidest um ein Vielfaches höher ist und du im schlimmsten Fall mit der Abgestumpftheit zahlst, es nicht mal zu bemerken.
Du musst es einfach so oft tun, bis du weißt, dass es dir besser geht, wenn du es tust.
Das ist der Moment, in dem du endlich keinen oder nur geringen Schmerz brauchst, um zu wachsen, sondern du aus Bewusstsein wächst. Andere Motivationen haben wir nämlich nicht, um ins Wachstum zu kommen.
Schmerz oder Bewusstsein.
Zu Beginn muss es weh tun.
Also bitte, sieh hin. Es mag ja sein, dass du gar nicht so recht spürst, dass irgendwas weh tut oder du etwas nicht lebst, was dir eigentlich entsprechen würde. Es mag ja sein, dass du so eingerichtet bist in der Vermeidung deines Schmerzes, dass der Schmerz wirklich nicht mehr spürbar ist, höchstens ein bisschen Überforderung oder Leere, etwas zu viele to-do`s oder Langweile,
ABER: dein Kind hat ihn.
Dein Kind spürt sehr genau den Schmerz, den du umschiffst, weil dein Umschiffen auch elementare Punkte seiner regelrechten emotionalen Entwicklung umschifft. Die bleiben dann ungelernt, ungeklärt und in ihm offen- das zwickt! Das verursacht Mangel. Das behindert.
So funktioniert der transgenerationale Übersprung elterlicher Themen nun mal.
Wenn du also jetzt noch der Meinung bist, dass du dir anschaust, was anzuschauen ist, wenn`s richtig arg nicht mehr anders geht- mach das. Ist ja dein Leben und seine Qualität, die es kostet.
Aber wenn du es machst, während du Kinder ins Leben begleitest, entscheid es bewusst.
Sei dir ganz und gar im Klaren darüber, dass du ein Problem parkst und dein Kind die Parkgebühren bezahlt.
DU hast in jedem Moment die Wahl.
Dein Kind hat sie nicht.
Du entscheidest für euch beide.
Break the cycle.